Ein schöner Mund

 

Paul Klee, Angelus Novum @CC

„Und wie geht es Ihnen heute?“ Das fragt mich ein schöner Mund. Ein schöner Mund, den ich im Moment nicht sehen kann. Aber da ich den Mund kenne, weiß ich um seine Schönheit. Ich habe den Mund bereits sehen dürfen. Den Mund und sein Lächeln. Und die großen, leicht auseinander stehenden Zähne in diesem Mund. Zähne, die wunderbar weiß glitzern, wenn das Lächeln zum Lachen wird. Dieses Lachen nenne ich in Gedanken „mein Fest“. „Für Sie gibt es hier nur wenig zu lachen, nicht wahr?“ Hat mir dieser Mund einmal zugeflüstert, als er sich, wie im Moment, verhüllt hatte. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Ich wollte mich nicht verraten. Aber ich wollte diese Worte, die aus einer weichen Kehle in einen schönen Mund hineinflossen, vermutlich um mir etwas Gutes zu tun, so auch nicht in diesem gläsernen Raum, der meine Zuflucht ist, hängen lassen. Solche Worte hängen dann sozusagen ungewollt über meinem Kopf in der Luft. Das stört mich. Worte sind geheime Zeichen. Sie stören nicht immer. Sie stören nur manchmal sehr, so sehr, will ich meinen, wenn sie alles mit einem vollständig falschen Duft durchdringen. Wenn die Luft über meinem Kopf nicht mehr aseptisch, sauber und gereinigt ihre Neutralität wie Seifenlauge, die über weiße Fliesen fließt, ausbreiten kann, wortlos und rein. Wenn die Luft ihren Odem, diesen Odem zur Bekämpfung störender Eindringlinge, nicht ohne Worte, die die Wahrheit verfälschen, weitertragen darf. Dann beginnt für mich ein Leiden. Ein Leiden, das wenig Anlass zum Lachen gibt. Also habe ich es nicht ganz so weit kommen lassen und die Worte Lügen gestraft. Ich habe nämlich in den schönen Mund, den ich nicht sehen konnte, in diesem Augenblick, hineingelacht. „Haha!“ Und dann haben ihre Augen, ihre sehr schönen Augen, kurz einen noch schöneren und wärmeren Blick erhalten. Diese Augen sind mein Tor zur Wahrheit geworden. Dieser sehr schönen und warmen Wahrheit, die nicht wie ein trockenes Faktum, ohne lebendiges Eigenleben, vor sich hinvegetiert. Lügt denn, so frage ich mich hier in meinem weißen Gewand und in meinem weißen Bett liegend, beispielsweise eine Raupe, wenn sie sich einen Schmetterling nennt? Oder lügt der Schmetterling, wenn er sich in seiner Puppe für eine schlafende Raupe hält und davon träumt, sich durch Blätter hindurch ins Licht zu knabbern? Was bitte ist denn die oberflächliche Wahrheit wert, wenn sie nicht die tiefsten Schichten weiterer, innerer Wahrheiten schauen darf. Ihre Augen jedenfalls lügen nicht, denn ihre Augen sind immer ganz nah bei dem, was sie sehen. Ihre Augen sind Spiegel, in denen sich ihre Seele mit der Seele des Gesehenen vereint. Ich fühle mich vollkommen von ihr gesehen, wenn sie ihr Gesicht über mir schweben lässt, wenn sie ihre kleine, runde, weich gepolsterte Hand an meine Stirn hält, um zu schauen, welche Temperatur mein Körper wohl hat. Ich fühle mich dann in meiner gesamten Wahrheit erkannt und von der ihrigen durchpulst. Aber das Fieber, das sie tagtäglich in mir vermutet, hat sich noch nicht gezeigt, obwohl sich viele, kleine Schweißtropfen sichtbar auf meinem Körper ausruhen wollen. Doch sie erzählen eine Geschichte, die von Anstrengung handelt und nicht von fiebriger Glut.
„Fever, Fever“ trällert mein Mund ironisch vor sich hin, dazu schließe ich leicht meine Augen und ihre Finger berühren meine Lider, als wolle sie einem Toten den Blick wegnehmen, den indiskreten.
„Nein, nein“ sage ich in ihr Tun hinein, „ich bin noch nicht ganz tot.“
Ihre Entrüstung ist daraufhin stets gespielt, wir spielen unser Spiel seit vielen Tagen, fast seit dem  ersten Tag, an dem ich hierhergekommen bin, auf diese Quarantäne-Station eines städtischen Klinikums. Allerdings trug sie damals noch ihre aseptischen Handschuhe und ich war mir noch nicht im Klaren darüber, wo ich wirklich gelandet bin. „Städtisches Klinikum“, das klingt sehr stark nach einer faustdicken Lüge. Ein Klinikum – und erst recht ein städtisches – passt nur sehr ungefähr als „Unterschlupf“, das es in meinem Falle, meinem „sehr besonderen Fall“ (wie der Oberarzt es bei der anstehenden Visite den umstehenden ÄrztInnen und AssistenzärztInnen zuraunte) nun einmal ist, obwohl das niemand zu wissen scheint. Also nenne ich den gläsernen Kasten, in dem ich hier gehegt, gepflegt und beobachtet werde, meine „Puppen-Station“. Ein Verpuppter, also ich und das, was von meinem Körper übrig ist, dürfen hier in Ruhe warten, bis sie ausgepuppt haben und die Werdung vollendet ist. Ich danke Gott, ich danke ihm auf Knien, auch wenn ich das nur in Gedanken tun kann, weil ich UNBEDINGT in meinem aseptisch weißen Bett liegen bleiben soll. Oh, welche Wohltat! „Warten Sie hier alle auf mein Sterben?“, habe ich sie vor einigen Tagen in solch einem Augenblick gefragt, an dem ihre Finger das Schließen meiner Lider mit den Fingerkuppen begleitet hatte, und sie hat ihren grauen, reinen, aufrichtigen Blick fest in meine nun aufgerissenen, verwaschen blaugrau daher schauenden Augen versenkt und gesagt: „Nein, auch wenn manches dafür spricht, dass Sie hier sterben werden, so sieht es doch insgesamt betrachtet, nicht danach aus.“ Und kaum ausgesprochen, lachte sie ein tiefes, lautes, kurzes und sehr raues Lachen in sich hinein und ihre Augen blickten anschließend geschäftig auf all das, was sie im Weiteren zu tun pflegt. Also auf den Kissenbezug, den sie nimmt, um ihn gegen einen durchnässten Stoff auszutauschen, oder auf die Schnabeltasse, die nun leer gewesen ist und die sie mit hinaus (hinaus?) nehmen musste. Am Ende ihrer Pflichten ruhten ihre Augen noch einmal auf mir, dem sie noch ein paar Haare aus der Stirn strich ehe sie ging, ehe sie entschwebte und mich mir selbst überließ. „Haben Sie schon einmal Schwierigkeiten bekommen, weil Sie nicht der Lüge mächtig sind?“, habe ich noch in ihren Rücken gerufen. Und sie hat diesmal nicht gelacht, sondern erstaunt zu mir nach hinten gesehen und gefunden, dass ich nun schlafen müsse. „Schlafen Sie, Ihre Hirngespinste bringen Sie sonst noch um“, hat sie ein zweites Mal nachdrücklich laut  in Richtung ihres, einem Teewagen ähnlichen, vierrädrigen Gestells gesprochen und doch eindeutig mich gemeint. „Ja, meine Hirngespinste kommen den Staat und die Stadt teuer zu stehen“, habe ich begütigend gemurmelt und sie hat „Machen Sie sich bitte darum keine Sorgen“, geflüstert und ist verstört (verstört?) durch die Schiebe-Tür aus Nichts (Glas) verschwunden, dorthin, wo ich nicht sein kann. Jetzt nicht und DANACH vermutlich auch nicht. Mein PLAN sieht anders aus in meinem Traum. Dieser Traum ist ein Wahr-Traum! Da ich nicht in der Lage bin zu lügen, wenn ich wach bin, kann ich mich auch in meinen Träumen nicht an bunten Gespinsten, die wie Seifenblasen sind, vergnügen. In meinen Träumen sehe ich Wahrheit. Dass das so ist, wusste ich wiederum in den ersten Tagen meines hiesigen Aufenthalts nicht. Ich träumte und träume tagtäglich denselben Traum, es ist der einzige Traum, den ich zur Verfügung habe und ich bin nur hier, in dieser Quarantäne-Station, in meinem Unterschlupf und meiner Zuflucht, weil der Traum noch nicht zu Ende geträumt werden konnte. Eine Zuflucht übrigens, die immer mehr an meine Bedürfnisse angepasst wurde und die strengen Gesetze, die normalerweise in solch einer Quarantäne-Station gelten, bereits seit einiger Zeit unterläuft. Sie wissen nicht, wo solch ein außerordentlich exotischer „Fall“, der ich nun einmal für das Klinik-Personal bin, besser untergebracht werden könnte. Niemand scheint mittlerweile noch daran zu glauben, dass eine Ansteckungs-Gefahr von mir ausgehen könnte. Und doch liegt meine Existenz, mitsamt ihrer Symptome, für den Arzt und seine MitstreiterInnen weitgehend in tiefes Dunkel gehüllt. „Ich darf noch nicht los!“, sagte ich vor einigen Tagen zu diesem Oberarzt, als er mich fragte, ob ich denn wisse, weshalb ich hier sei. Hier, in dem städtischen Klinikum. Mein Mund gab also diesen Satz als Antwort, doch ich hatte selbst keine noch so geringste Ahnung, was damit gemeint oder benannt sein könnte. Später erst ist er mir wieder eingefallen, zugefallen sozusagen, der Traum, den ich Nacht für Nacht in diesem kranken Haus, in dem ich mich versteckt halten muss, zu träumen pflege. In diesem Traum flattert ein Schmetterling, ein sehr exotisch aussehender Verwandter des allbekannten Pfauenauges, zunächst gegen all das, wogegen Schmetterlinge in geschlossenen Räumen so anzuflattern pflegen, taumelnd und unbeholfen. Er fliegt in die Richtung einer Lampe mit Lampenschirm  und seine Flügel bekommen dadurch kleine, gezackte Ränder und dann fliegt er gegen ein geschlossenes Fenster und der feine Staub seiner Flügel bleibt am feuchten Glas kleben und er fliegt, dünnflügelig inzwischen, weiter und stößt sich die ausgefahrenen Fühler an einer weiß getünchten Zimmerdecke. Doch an dieser Stelle sage ich im Traum zu ihm (oder im Grunde genommen doch zu mir selbst), dass er ein Dummkopf sei, da er sich für einen Geflügelten halte, obwohl er doch ein Raupentier sei und sofort atmet er dankbar auf und kriecht sogleich über einen Teppich, der scheinbar gesaugt werden soll, doch die Raupe, deren Körper der Schmetterling nun angenommen hat, schlüpft unter den Teppich und als der Staubsauger in meinem Traum verstummt ist, da tastet sie sich aus ihrem Dunkel hervor und will an einer dunkelbraunen Schrankwand empor kriechen, einer enorm hässlichen braunen Schrankwand, doch schon hören wir - die Raupe und ich - das hysterische Schlagen von Flügeln, ganz in ihrer Nähe, gelbe Flügel eines Kanarienvogels nähern sich, der sich offensichtlich nicht mit seinen Flügeln auskennt, der aber eine Raupe schmecken möchte und dann, immer im letzten, dem allerletzten Moment, gelangt ein gläserner, hauchdünner Faden zu der Raupe und zieht sie zu sich hinauf in Richtung Zimmerdecke, nicht mittig, sondern zu einer Zimmerdecken-Ecke und die Raupe wird so weiß wie die Wand, reglos, taub und tot steckt sie in einer Hülle und wartet. An dieser Stelle des Traums bin ich jedes Mal sehr erleichtert und kann erwachen. „Dies Wesen kann noch nicht los!“ Das ist die Botschaft. „Es muss noch warten“. Und an allen Tagen hier warte ich mit ihm. Und im Traum darf ich sein Wachstum verfolgen. Das Einzige, was mir am Tag Sorgen bereitet, ist nicht das, was irgendwann aus dieser Puppe schlüpfen könnte, nein, Sorgen bereitet mir ausschließlich dieser schreckliche Raum, in dem das neue Wesen sich sofort wieder eingeschlossen fühlen könnte. Doch mir bleibt im Grunde nichts weiter, als dieser Traum und so will ich nicht aufhören, dieser geträumten Sache mit allnächtlichem Vertrauen zu begegnen und meine Sinne, meine davon ganz trunken gemachten Sinne, am Tag mit ihrem schönen Mund und ihren wahrhaftig blickenden Augen zu erfüllen. Mit ihren Augen und ihrem Mund getränkt, kann sich vielleicht im Traum ein Fenster öffnen oder eine Tür, die in seligere Gefilde führen, als ich scheinbar bis dato gewohnt gewesen bin. "Fülle Du mich mit meiner Liebe zu Dir und Deiner Liebe zu mir ...", bete ich manchmal, natürlich ohne gefaltete Hände und ohne meine Lippen zu bewegen. Dann wird mir warm ums Herz und die Schweißtropfen auf meiner Stirn bilden ein dünnes Rinnsal, das sich als Träne den Weg über mein Gesicht bahnt und stets in meinem weißen Kragen endet. Selbstredend ist das kein wirklicher Kragen, sondern eher eine Manschette, also insgesamt ein körperbedeckender, riesiger, weißer Latz, den ich hier in meiner gläsernen Puppen-Station tragen muss. Der Stoff dieser Quarantäne-Uniform liegt leicht und sauber auf meiner Haut und gibt ihr eine angenehme Kühle hinzu. Meine Haut ist ein Problem. Sowohl der Oberarzt als auch das Gesamt seiner weiß gekleideten Gefolgschaft, bemühen sich mit all ihren Kräften, ihrem Wissen und ihren Mitteln um die Lösung dieses Problems. Bisher allerdings ist ein schlagender Erfolg, ein klinischer Durchbruch, nicht wirklich erfolgt. Meine Haut hängt weiter in weißen, dünnen Fetzen an mir herab, ein weiteres Pergament aus weißlicher Haut hält dennoch tapfer meine Glieder bedeckt, so dass ich zwar die optische Schälung zur Kenntnis nehme, aber deswegen keinerlei Schmerzen verspüre. Vorrangig wegen dieser eigenwilligen Häutungen wurde ich auf der Quarantäne-Station aufgenommen, "sicher ist sicher", hat man mir und sich gegenseitig zugeraunt. Manche Stellen meiner Arme, Beine und meines Rumpfs hat man auch mit weißen Baumwoll-Binden umwickelt, mein Gesicht und der Kopf sind ebenso betroffen, eine Art breites Stirnband windet sich um meinen Haaransatz. So also hat man mich vor einigen Tagen - oder sind das nicht mittlerweile bereits mehrere Wochen - auf einer Straße der hiesigen Stadt aufgegriffen, mit einem gestreiften Schlafanzug bekleidet, darunter mein hagerer Körper, der selbst in Streifen lag (hihi), mit schulterlangen, hellblonden, extrem feinen Haaren ohne erkennbaren Schnitt und eigenartig groben Bart-Stoppeln (grau oder weiß) im Gesicht. Mein Anblick deutete sowohl Verwirrung als auch Verwahrlosung an und wohlmeinende Menschen riefen irgendwann die Polizei. Ein Polizei-Trupp, dem man keine Adresse angeben kann oder besser noch, dem man keinen gültigen Personal-Ausweis entgegenstreckt, hat indes keine andere Wahl, als diese Person "unbekannter Herkunft" in Gewahrsam zu nehmen. Noch im Polizei-Wagen bin ich wohl ohnmächtig geworden und als ich erwachte, sah ich beim ersten Aufschlagen meiner Augen in ihren weichen, mitfühlenden Blick hinein. "Alles ist gut", sagte ihr schöner Mund, den ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht gesehen hatte, versteckt hinter  der sauberen, blütenweißen Maske und ich glaubte diese Worte sofort. Meine Augen strahlten ihr, so intensiv wie möglich, ein JA entgegen und sie leuchtete, gerührt nun, zurück. Der Bund war damit geschlossen! Unauflösbar bis auf Weiteres. Ich bin nicht naiv genug, um an eine gemeinsame Zukunft von mir und ihr zu glauben. Allein dieser Mangel an schlichtem Hoffen auf eine unrealistische Wunscherfüllung zeigt mir, dass ich bereits eine irgendwie gelebte Vergangenheit haben muss. Doch welcher Art meine Vergangenheit auch immer gewesen ist, für eine Instanz in mir scheint sie nicht wesentlich genug zu sein, um mich daran erinnern zu wollen. Ich habe also eine vollständige Amnesie, meine erste Erinnerung beginnt mit ihrem Blick und ihren Worten "Alles ist gut!" Mehr brauche ich nicht zu erinnern, das ist mein Schatz, meine ganze, täglich älter werdende Vergangenheit, die sich ausschließlich in diesem gläsernen, weißen Käfig gebildet hat. Hier darf sich in Ruhe meine Haut schälen, hier bin ich beschützt. Und sie ist der Engel, der mich von diesem Punkt aus vorbereitet, auf das noch Ungewisse, dieses was-weiß-ich-wohin. Der Tag wird kommen. Dieser neue Tag wird dann kommen, wenn ich einen Ausweg erträumt habe. Erst dann, nur dann, aber immerhin: dann. Außer meinem bereits geschilderten ersten Augenblick in ihren Blick hinein, gab es noch diese zweite, meine Erinnerung mit lichten Funken erhellende, Erfahrung, die mit dem Anblick ihres enthüllten Mundes einherging. Es ist genau 10 Tage her, hier weiß ich dies genau, dass sie vor ihrer Glastür stand, vor diesem materialisierten Nichts und auf einmal nicht nur ihre Augen ganz fest auf meinen, sich leicht erhebenden, Kopf richtete, sondern ganz langsam, sehr bestimmt und vermutlich geplant und nicht spontan aus der Situation geboren, mit beiden, hinter ihrem Zopf verschwindenden Händen das Band löste, das dieses verhüllende Stückchen Stoff vor ihren Mund gepresst hielt. Und dann sah ich zunächst ihre prachtvollen, roten, üppigen Lippen, die sich nun freudestrahlend zu einer leisen und dann lauter werdenden Fröhlichkeit ausbreiteten und schließlich ihre strahlend weißen, leicht auseinander stehenden Zähne funkeln ließen. Alles an ihr ist ein Strahlen gewesen, in jenem Moment und so lernte ich ihren schönen Mund kennen, mitsamt dem dazu gehörigen Lachen, das ich fortan „mein Fest“ nennen darf. „Für Sie gibt es heute erstaunliche Neuigkeiten“, hat mir dieser Mund vor einigen Minuten zugeflüstert. Ich wusste es, ich wusste, dass sich in Kürze etwas bewegen würde, in meiner Geschichte und mit mir, denn in meinem Traum ist fast alles ganz genau so gewesen, wie es bisher Nacht für Nacht immer wiederkehrend geschehen ist, doch am Ende des Traums, gab es einen winzig kleinen, dennoch sehr nachdrücklichen Hinweis auf eine neue Entwicklung. Die Puppe, in ihrem Weiß kaum sichtbar versteckt in dem Zimmerdeckenwinkel des mir verhassten Raums, hatte kurz einen Schatten gezeigt. Wie durch eine japanische Trennwand aus dünnem Papier hindurch, konnte ich eine zappelnde Bewegung erkennen, eine schattenhafte Kontur und mir war mit dem Erwachen sofort klar, dass sich nun etwas bewegen wird, in meinem noch ziellosen Sein auf dieser Quarantäne-Station, die meine Zuflucht ist. „Sie vertragen kein Licht, überhaupt keine Helligkeit“, hat sie mir in meinen fragenden Blick hinein gesagt. Eine ihrer warmen, weichen, runden Hände ruhte dabei schmetterlingsleicht auf einer meiner bleichen, knöchernen Handrücken, dessen Haut in Fetzen lag. Der „Herr Doktor“ würde mir das noch wissenschaftlich erklären wollen, aber sie dürfe mich bereits jetzt darauf vorbereiten, dass man mit der Erkundung der Ursache meines HautLeidens vermutlich um einen gewaltigen Schritt weiter sei. Während ihre dunkle Stimme meine Ohren jubilieren ließ, übertönte ein noch gewaltigeres Glücksgefühl in meiner Brust, in der ein Herz einen Purzelbaum aus Übermut zu schlagen schien, die Wohltat, ihren Worten lauschen zu können. Ich bebte am ganzen Körper, sorgenvoll beugte sie sich über mich, schaute prüfend in mein Gesicht, schien sich über die, sich darin spiegelnde, Freude sehr zu wundern und zog die Bettdecke straff bis zu meinem Hals. Dann spielten ihre Finger an einem grauen Plastikschalter herum, der an einem Kabel um mein eisernes Bettgestell hing und dimmte das Licht, so dass meine gläserne Behausung nun in einem sehr behaglichen Dämmerlicht liegt.
„Dämmer ist ein Gefährte der Stille“, seufzte ich wohlig auf, meine Augen entspannten sich, mein Körper entspannte sich und meine Seele entspannte sich. Alles an mir entspannte sich und ich wusste, dass es für mich kein größeres Geschenk geben könnte, als die Tatsache, nie mehr gezwungen zu sein, eine gewöhnliche Tag-Existenz führen zu müssen. Der Raum meines Traums erstarb mit dieser Botschaft, das zarte Gewebe, des nur ganz leicht, von innen heraus, illuminierten PuppenGehäuses, dehnte sich zu ungeheuren Ausmaßen und wurde in meiner Fantasie zum behaglichen Domizil meines Schmetterling-Geschöpfs, das sich fortan nicht mehr in einem Viereck aus sinnloser Funktionalität flatternd die Flügel stutzen lassen musste. „Eine allgemeine Licht-Allergie, eine LichtEmpfindlichkeit von außerordentlichem Ausmaß,  eine hochgradig ausgebildete Hyper-Sensibilität“, bestätigte der Oberarzt etwas später die Diagnose und sein Gefolge verstummte mit der Nennung meiner ungewöhnlichen Erkrankung, deren Auslöser sehr wohl psychosomatischen Ursprungs sein könne. „Oh“, sagte ich pflichtschuldig, doch der irritierte Blick der umstehenden, sich aus diversen Hierarchien zusammensetzenden ÄrztInnen wies mich darauf hin, dass auch diese den gelöst zu nennenden Ausdruck in meinem Gesicht irgendwie unpassend, ja, nahezu verdächtig, empfanden. „Nun, wir werden unser Bestes für Sie tun, verzagen Sie nicht“, nuschelte der Oberarzt in Richtung seiner Füße, auf die er nun schaute und trat den Rückweg, hinaus aus meinem gläsernen, funzlig beleuchteten Kokon, an. Eilig trippelten seine Gefolgsleute mit leutseligem Getuschel hinter ihm her. Die Schiebetür wurde sachte zugezogen, Ruhe um mich her, Ruhe und Frieden. Doch etwas Beunruhigendes hallte der Visite nach. Es umklammerte mein Innenleben wie ein Schraubstock und ich wusste, dass das Wort „Provisorium“ erschütternd in dem weißen Kissen, in das ich mein Gesicht drückte, hängen geblieben war. Meine soeben erst gefundene Sicherheit konnte diesem Wort nicht standhalten. Dieses Wort ließ mich nicht leiden, wie es unaufrichtige Bekundungen und falsche Tonarten gesprochener Silben zu tun pflegen, nein, das Wort „Provisorium“ atmete Wahrheit und schien mir gerade deshalb von unerträglicher Grausamkeit zu sein. „Wir melden Sie zunächst einmal provisorisch über die Grundsicherung bei einer gesetzlichen Krankenkasse an und wenn unser Aufruf Erfolg hat, oder wenn Ihre Erinnerung zurückkommen sollte, dann wissen wir mehr.“ Das hatte vor einiger Zeit die Sozialarbeiterin der Klinik zu mir gesagt, sehr darauf bedacht, dass ich zwar die Umständlichkeit des ganzen Unterfangens glasklar erkennen könne, gleichzeitig aber auch auf beruhigende Weise ihren ganz besonderen Einsatz für eine „Person unbekannter Herkunft“ nachzuempfinden verstand. Soweit leuchteten mir ihre Ausführungen ein und ich ging völlig „d’accord“ damit. Das Wort „Provisorium“, das heute gesprochen worden war, hatte sich allerdings auf meinen Aufenthalt in diesem Glaskasten bezogen: „Wenn sie mir meine Puppen-Station nehmen, dann bin ich nackt, erledigt und ohne SIE!“ Mein neues Sein brach mit diesem Gedanken in sich zusammen, meine geträumte Chance erschien nun in Wirklichkeit eine Farce zu sein. Schluchzend schlug ich meine Hände über meine Augen, die zerborstene Nase fing zu bluten an, in meiner Not drückte ich den roten SOS-Knopf, der neben meinem Kopf baumelte. Nie waren ihre Augen  schöner als in diesem Augenblick, in dem sie durch die sich eilig öffnende Schiebetür zu mir ans Bett stürmte, mir die Hände aus dem Gesicht zog, mich mit dem feinen Grau ihrer Iris durchbohrte und den nervlichen Zustand, in dem ich mich befand, sofort erkannte. Sie drückte ein Tuch gegen die Blutung, setzte sich auf den Rand meines Bettes, ließ es geschehen, dass ich mein Gesicht in ihrem Schoß vergrub und streichelte beruhigend über mein Haar. „Nein, nein“, hörte ich sie sagen, zitternd und dennoch überzeugend, mit einer Stimme, die nun aus ihrem Bauch geboren zu sein schien. „Ich bin bei Ihnen, wenn Sie umziehen. Ich bin für Sie abgestellt worden. Wir bereiten schon ihr Zimmer mit Jalousien vor, eine Etage tiefer, in der Psychosomatik“.
Und während sie mich hin und her wiegt wie ein Kind, komme ich zurück in ein Leben, zurück an das Licht, das für mich die Dunkelheit sein wird, die schöne, schwarze, samtige Nacht. Ich werde in diesen, längst menschenleer gewordenen, nächtlichen Krankenhaus-Anlagen stehen und ich werde eine Zigarette rauchen. Ganz dicht neben mir, sehe ich ihre Silhouette. Ihre Augen werden in neuen Farben leuchten, wenn ich ihr mit einem kleinen Sturm-Feuerzeug vor dem schönen Mund herumfuchtele, damit auch sie kleine, hellgraue Kringel zum Himmel schicken kann.
Doch zuvor höre ich sie noch sagen: „Alles ist gut!“.
Und ich sage: „Ja!“
2022


Diese Story aus "Lost Paradise" erschien auch in der Dezember2023-Ausgabe des unabhängigen Literatur-Magazins "Textmanege".

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