Green Eyes

 

A. Jawlensky, Porträt des Tänzers A. Sacharoff @CC

“Wenn der Himmel die Erde und ihre Bewohner umarmt, befinden wir uns in 2023, dem Jahr des großen Übergangs … Ein Einheitsbewusstsein wird für uns Übriggebliebene zur Selbstverständlichkeit werden … Bis dahin werden Umweltkrisen die Erde heimsuchen und die Vögel vom Himmel fallen und die Fische sterben, bis wir begriffen haben … 2023 wird gut und sinnerfüllt.“
Und so weiter und so fort. Die Stimme der Dame aus dem Fernsehen gehört zu einem esoterischen TV-Kanal und macht mich lächeln. Ich heiße Bella. Ich bin ein Transvestit. Bella, die dunkle Blume der Nacht! Ich lebe in Berlin und stehe gerade vor dem Spiegel in meinem Ankleidezimmer. Das Fernsehen läuft im Wohnzimmer  weiter. Ich blicke in meine Augen.
“Green Eyes”, summe ich in mich hinein. Eines meiner beiden Augen, das linke, ist von der Natur mit einem tiefen Blau-Ton zu einem Türkis-Grün zusammengemischt worden. Das andere Auge schimmert in einem satten Moos-Grün.
Green Eyes! Meine Augen sind unbeschreiblich!
Sie saugen sich als Spiegelblick in mich hinein. Meine Augen sind meine Waffe, mein Triumph und meine Tarnung. Ich bin meine Augen! Ohne diese Augen wäre ich nicht Bella. Diesen Augen verdanke ich meine Karriere und mit diesen Augen verdiene ich mein Geld. Ich bin nicht schön, aber meine Augen geben mir den Anschein, aus einer anderen Welt heraus, auf diese Erde gefallen zu sein. Ich bin ein Alien, ein Engel, gefallen aus einer Höhe in die Niederung der gewöhnlichen Menschheit. Mein Blick ist wie ein Unterwasserwald aus meterlangen Algen, die sich schlangenhaft um den Körper eines Schiffbrüchigen schlingen. Sie ziehen jeden in ihre Tiefe und halten unwiderstehlich in ihrer Tiefe fest! Green Eyes!

Ein leichtes, doch satirisch überzogenes Stöhnen wird von den dünnen Lippen meines breiten Mundes in die Luft geschleudert. Puh! Was quatschen die da im Fernsehen!
Mein Mund muss nicht schön sein. Meine Augen reißen alles raus. Ich habe mir gestern die Fingernägel blutrot lackieren lassen, meine glatten, schwarzen Haare sind schulterlang und heute fallen sie strähnig ins Gesicht. Ich bin nicht eitel, aber meine Existenz lebt in Abhängigkeit von der Kunst-Existenz meiner nächtlichen Bühnenshow. Ich liebe dieses Leben sehr.
Am Tag bin ich, je nach Stimmung, ein Mann oder eine Frau und nur dann allein, wenn ich es will. Einsam bin ich immer, jedoch ohne ein Leiden in diesem Zustand zu empfinden. Einsamkeit kann auch Raum bedeuten, für die Freuden einer Erfüllung anderer Art.
Ich möchte das hier nicht näher erörtern oder gar erläutern. Es ist so. Punkt.
Das Telefon schrillt, aber ich laufe nicht ins Schlafzimmer, um den Hörer abzuheben.

Ich bin nicht immer in meinem Leben in diesem Zustand von euphoriefreier Zufriedenheit gewesen, die für mich die Ruhe von einer Geborgenheit im Glück bedeutet. Ich war lange ein Suchender auf der Suche nach der Suchenden in mir. Dann habe ich sie nicht mehr suchen müssen, weil sie immer auch im Suchenden gewesen ist. Nur dieses Wissen ist nötig gewesen, um mein Leben glücken zu lassen.
Ich bin Yin-Yang und in meinen Augen liegt das Meer aus Mehr. Ich sehe immer Transzendenz.

Mein Körper ist frisch rasiert. Geduscht habe ich mit einem exklusiven Duschgel aus Bio-Algen-Extrakt. Ich rieche das Meer und das Salz in der lauen, blauen Luft und gehe kurz vor der Spiegelwand in den Spagat. Disziplin ist wichtig in meinem Metier, so wichtig wie Beweglichkeit.
Ich bin ein ganz normaler Arbeiter. Ich bin ein Profi. Doch ich fühle Glück, tagein und tagaus. Ich könnte in dieser Sekunde sterben. Alles wäre erledigt. Alles wäre gut.

Doch das muss nicht sein. Das Leben in einem Glück der Aura von grünen Augen ist gut genug, um gerne lange erlebt zu werden. Heute spüre ich einen besonderen Hauch von Engel-Anwesenheit um mich herum. Ich habe einmal, damals als ich suchte, den Flügel eines Engels gespürt und dann habe ich alles gefunden.
Das Telefon klingelt erneut und die Stimme im TV säuselt sich aufgeregt ins Nirwana hinein. Ich laufe auf meinen High-Heels ins Schlafzimmer und schalte den Anrufbeantworter ein und hebe keinen Hörer ab. Dann stolpere ich quieksend ins Wohnzimmer und knipse das TV ins Aus.
Und jetzt rufe ich nach Odin, dem Langschläfer und in rasant torkeligem Rhythmus kommt mein Mops um die Ecke des Flurs gerannt. Ich ziehe den himmelblauen Überzieher an. Wir werden jetzt spazieren gehen. Ja, Berlin ist immer einen Spaziergang wert.
Dicker Knutscher an Euch!
Green Eyes sind green Eyes und goodbye!

 2010

 

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