Von den Anfängen

 

@PaganinisBerlin

Es regnet Berlin

„Es regnet Berlin“, sage ich gedankenverloren, meine nackten Zehen betrachtend. Von einem Nagel blättert der Nagellack, was mich sehr ärgert, denn ich habe ihn erst gestern frisch lackiert. „Ach, es regnet Berlin“, äfft die Stimme am anderen Ende der Leitung mich nach. „Bei uns regnet es Wiesbaden!“ Warum klingt meine Freundin so gehässig, so derart gereizt und boshaft? Es regnet Berlin, ja, das habe ich wohl gesagt, ganz aus Versehen, ohne die Spur eines Hintergedankens. Ich habe ein klitzekleines Wort vergessen, ein dummes „in“, zwei tumbe Buchstaben, den hässlichsten aller Vokale und ein verstümmeltes M. „Es regnet hier IN Berlin“, sage ich mit Nachdruck. Sie soll doch zufrieden sein, dass ich an diesem hässlichen Morgen der Aufforderung des schellenden Telefons nachgekommen bin und sie mich an der Strippe hat. So etwas Blödes auch, ich hätte es einfach läuten lassen sollen. „Du musst immer etwas Besonderes sein, alles bei dir ist sooo außergewöhnlich, so absolut und extraordinär! Es regnet Berlin, wow, wie gekonnt, welche Lyrik!“ Ihr Tonfall wird zunehmend schrill und boshaft, fast schon ein bisschen hysterisch. „Ich bin ja so spießig, so borniert, so provinziell, was bildest du dir eigentlich ein, wer du bist?“ Ich will sie beruhigen, erneut das sprachliche Missgeschick aufklären, doch es macht Klick - das klingt energisch - und dann höre ich das Tut Tuuut, das klingt vorwurfsvoll, wie eine Gouvernante mit hochgezogenen Augenbrauen. Was für ein beschissener, erbärmlicher Morgen, den Tag kann ich vergessen, das kenne ich schon, wenn er so beginnt, kommt da nichts Gescheites mehr nach. Es fing schon damit an, dass ich erwachte und mich nicht mehr an meinen Traum erinnern konnte. Doch ich hatte geträumt, das weiß ich genau, und zwar muss ich etwas ganz Hässliches, sicher Beklemmendes geträumt haben, denn der Alpdruck lastete fast physisch spürbar auf mir. Wenn ich so erwache, ist das bereits kein gutes Omen, diese Stimmung des furchtbaren Traumes hält mich für Stunden gefangen und es wird verschlimmert, wenn ich mich nicht mehr konkret an ihn erinnere, denn dann gibt es keine Möglichkeit zur Bewältigung. Dem Bett entstiegen, führen mich die ersten Schritte zu den Fenstern, ich kurbele die Lamellen der Jalousien auf Durchsicht und heute sah ich wie gesagt in feuchtes Grau hinaus, in ein verregnetes Berlin hinein. Der Himmel ist dreckig, das heißt, eigentlich sieht man gar keinen Himmel, nur schwangere, zerknäulte, von Pfützen triefende Wolkenballen. So also hat schon der Morgen angefangen, doch damit nicht genug, bemerkte ich sobald, dass die Kaffee-Tüte leer war. Naja, sie war nicht richtig leer, ein kärglicher Rest von etwa einem halben Teelöffel zermalmter Kaffeebohnen war sicher noch drinnen. Aber was soll ich schon mit diesem erbärmlichen Rest anfangen? Eine morgendliche leere Kaffee-Tüte bedeutet, dass der Morgen mit Tee anfangen muss und das hasse ich eigentlich sehr, denn mein niedriger Blutdruck lechzt nach Koffein und nicht nach Teein. Da gäbe es natürlich noch die Möglichkeit, rasch ungewaschen und mit ungeputzten Zähnen zu dem kleinen Laden um die Ecke zu joggen und Kaffee zu kaufen, aber der ist da erstens zu teuer, zweitens nicht frisch gemahlen und außerdem hasse ich es noch mehr als den Tee, wenn ich morgens als erstes die drei Stockwerke hinunter und dann wieder hinauf laufen muss, um mir irgendetwas zu holen, ohne das ein Morgen eigentlich nicht möglich ist. Deshalb habe ich auch immer einen kleinen Notvorrat an Zigaretten im Haus, um morgens die erste Zigarette zum Kaffee genießen zu können, ohne zuvor die Wohnung verlassen zu müssen. Heute früh gab es dann die Zigaretten zum Tee und das schmeckt eigentlich nicht und der Blick aus dem Fenster war auch nicht aufheiternd, zumal der Alpdruck wie erwartet mich penetrant in seinem Bann hielt. Und dann hat das Telefon geläutet und es hat doch wirklich nur schiefgehen können. Den Tag heute kann ich vergessen, da kommt nichts Schönes mehr nach. „Es regnet Berlin“, so etwas Lächerliches. Tröstlich bleibt nur, dass Heute bloß Heute und das Morgen die Hoffnung verheißt!
(1998 veröffentlicht im Literaturmagazin "LiMa" by BVJA)



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