Meine Rixdorf-Geschichte
Richardstraße |
Meine Geschichte spielt heute. Der Ort meiner Geschichte ist Rixdorf. Meine Geschichte ist also eine Rixdorf-Geschichte. Die Protagonisten in meiner Geschichte sind Rixdorf, ich selbst und Du. Wie die Geschichte enden wird, weiß ich im Moment noch gar nicht. Ich beginne doch erst mit dieser Geschichte. Jetzt, stehend vor einem Walnuss-Baum vom Umfang der sagenumwobenen Welt-Esche. Nein, ich übertreibe. Doch Übertreibungen gehören zu mir, wie Rixdorf zu Berlin gehört. Der Umfang des Walnuss-Baums ist folglich ohne Belang. Ein Blatt fällt vor meine Füße. Ein Gruß vom Baum. „Hallo!“ Es ist September. Altweiber-Sommer-Wetter. Das passt zu mir und meiner Geschichte. Ein wunderbarer Übergang vom Sommer in den Herbst hinein. Es ist noch warm, doch nicht zu warm. Das Licht ist noch licht, doch nicht mehr penetrant. Rixdorf leuchtet und sieht dabei aus, wie ein Dorf auf einem bereits leicht vergilbten Foto aussieht.
Ich liebe Rixdorf. Davon handelt meine
Geschichte. Rixdorf ist ein altes Dorf, das sich jeden Tag ein wenig
wandelt. Doch es bleibt immer ein Dorf. Ein Dorf, umzingelt von einer
riesengroßen Stadt. Ein Dorf mittendrin. Ein Dorf wie ein Herz. Warm schlagend.
Nicht aufgebend. Sich verströmend in tief wurzelndes Pflanzen-Reich. Sich
labyrinthisch verbergend in, mit Kopfstein bepflasterten, Gassen, so eng, dass
sie Namen wie Enge Gasse bekamen. Oder wie Wanzlikpfad, hinter
dessen Begrenzung aus losem Lattenzaun, die noch träumenden Hähne krähen. Silent
Rixdorf Garten, psst, hier ruht aller Lärm, hier ist Vogel-Zwitscher-Area.
Mit dem Walnuss-Baum beginnt die Geschichte. Und schon hat sie sich wild
wuchernd verzweigt, ein wenig verlaufen gar. Wie Du. Du hebst ein wenig matt
deine Hand, schaust verwirrt in meine Richtung. „Wie komme ich von hier nach
dort?“ Deine Stimme, so sanft. Ich schaue dich fragend an. „Dort“? Who the fuck
ist „dort“? Doch du läufst bereits erleichtert auf einen niedrigen Zaun am
anderen Ende des Spielplatzes am Richardplatz zu, rüttelst sachte am
Kettenschloss der Pforte aus Holz, steigst hinüber, winkst mir glücklich zu.
„Ach, dort!“ Dort ist meine Geschichte ein Garten.
Rixdorf ist ein Dorf
voller Gärten. Und dort, wo du bist, ist der Garten aller Gärten: Comenius-Garten,
mon Amour. Doch der muss (noch) auf mich warten.
Ich schaue, ob ich eine Walnuss zwischen den Blättern ausmachen kann.
Heute sehe ich nichts dergleichen. Ach, Walnuss. Du angebliches Zeugnis eines
jeden Anfangs auf Erden. Wo steckst du nur? Geschenkt, ich brauche sie nicht mehr, ich bin bereits
hier. Ich bin in meiner Rixdorf-Geschichte gelandet. Und irgendwann,
vielleicht, werde ich unter einem Rixdorfer Baum liegen, tief unter Rixdorfer
Erde, inmitten von Wurzeln, wo Rixdorfs unterirdischste Geister, die
Würmer und Käferlarven, mich zu Rixdorfer Dünger verarbeiten dürfen.
Haha, ich blicke zum Böhmischen Gottesacker, der meinem Walnuss-Baum vi
a vis liegt und winke, stolz und lebensprall, wohl wissend um mein starkes,
rotes Herz. Bumbum, macht das, bumbum.
Böhmischer Gottesacker |
Die Eltern, die Geschwister, die Ahnen weit weg, in
verschiedene Ecken unseres Landes verstreut, die meisten begraben. Diese
Eltern, die immer die Ursache meiner Geschichte bleiben werden, davon ist kein
Entrinnen. Und wollte ich einst dies Entrinnen erzwingen, mit dem Sprung in den
überquellenden Topf, diesen Moloch called Berlin, so finde ich nun in Rixdorf
alles wieder, verwandelt, als Geschichte, als prägende Ursache für Zerstörung
und Aufbau, Geistervillen, hinter deren Mauern einmal Glanz und Glamour wohnten
und Bewohner mit solchen Gesichtern, wie die auf den Fotos der Familienalben,
dazu träumerische Idyllen vor den Fenstern, wild verwachsene Gärten damals und
heute, aus Trümmern neu Entstandenes und immer wieder ganz neu Hinzukommendes.
Die Gentrifizierung, sie ruht noch lange nicht! Der Mensch, so auch ich, eine
ewige Baustelle! Rixdorf, der erste Ort, den ich leise Heimat nenne.
In Berlin fand ich sie zunächst nicht, die
Heimat, nicht in Wilmersdorf, nicht in Charlottenburg und nicht
in Schöneberg. Auch nicht in Pankow.
Ich suchte und fand nicht. Dann suchte ich nicht mehr und fand. Die damals noch
zahlbare Miete zog mich vor sechzehn Jahren hier her und ja, auch der große,
wundersame Dorfplatz, an dem ich nun unter dem Walnuss-Baum stehe, der Richardplatz,
mit der holprigen Straße, die kreisförmig einmal um den ganzen Platz führt,
vorbei an seinen windschiefen Häusern aus frühen Zeiten und einer alten, um
1750 entstandenen Schmiede, die das Eisen auch heute noch schärft. Rixdorf
und ich, wir wissen das Schwert zu führen!
Alte Villa am Richardplatz |
Während mich Erinnerungen anflattern wie Rixdorfer
Tauben, bin ich bereits losgelaufen, ein wenig in Richtung Richardstraße
geschlendert und siehe da, du kommst mir entgegen, blauäugig, mit vom Wind
zerzausten, schwarzen Haaren und hebst schon von weitem leicht deine rechte
Hand zum Gruß.
Ich freue mich, obwohl ich dich noch gar nicht kenne,
doch dein Lächeln, in seiner Schüchternheit, ist echt und schön und aufrichtig.
Du kommst aus dem Garten, zu dem es mich täglich zieht, dem Garten, dem ich
meine Seele anvertrauen kann, anvertrauen, wenn es mir schlecht geht und
anvertrauen, wenn es mir gut geht. Ein Garten wie ein Paradies, doch keine
Schlange in Sicht. Ein Garten, wie geschaffen für den Freigang aus den
unliebsamen Bindungen des alltäglichen Müssens und Sollens heraus, ein Garten, in
dem ich stets an meine Innenwelt, meine Fantasie anknüpfen kann. So
schmeichelnd die Vegetation, so weich dort der Wind, so skurril die Bäumchen,
so gurgelnd dahinfließend der Bach und so meditativ der kleine Teich. Ein
Garten der Heilung vom Ruß der Vergangenheit und vom Blei der Zukunftsangst.
Comenius--Garten |
Zu diesem verwehenden Halbsatz machst du eine zarte Bewegung in Richtung eines
kleinen Cafés auf der anderen Seite des Platzes. „Nein, nein, ich wollte, ich muss
…“, rufe ich kleinlaut, fühle mich albern, winke dir zu, beschleunige den
Schritt und laufe zügig von dir fort. Puh, ich bin gerettet!
Meine Geschichte ist jetzt ein Garten. Ohne den Garten wäre mir Rixdorf
nicht die Heimat geworden, die es ist. Stille, der Garten ist ein real
gewordenes Synonym für Stille, für belebte Stille wohlgemerkt.
Ich vermisse dich ein wenig, warum habe ich geglaubt,
mich fortretten zu müssen? Egal, du bist sicher ein Wanderer und ich bin hier
zu Hause. Was macht den Unterschied? Und bist du vielleicht doch hier zu Hause,
vielleicht ganz frisch in diese Gegend gezogen und jetzt auf der Suche nach
neuen Kontakten, netten Ansprechpartnern zum Eingewöhnen?
Ich öffne das Gatter zum Garten mit dem kleinen, surrenden Klingelknopf. Dieses Surren beruhigt mich umgehend, die Welt steht still und wartet vor dem Tor, bis ich wiederkehren will. So ist das immer. Tag für Tag. Wie ein Zauber in dieser zauberlosen Welt. Das ist auch meine Geschichte. Eine Geschichte des Zaubervollen, des Unerfüllten, der Pflanzenwelt. Sie scheinen so passiv, in ihrer wiegenden Schönheit, doch jedes Mal sehen sie verwandelt aus, sind sie über Nacht in einen anderen, neuen Zustand übergegangen.
Die Langgraswiese liegt schon als Heu darnieder, ich setze mich auf einen großen Stein, vor mir das Glitzern der fast glatten Oberfläche des Teichs, das Plätschern, des in ihm mündenden Bächleins liegt hinter mir, ebenso die schiefergraue Statue des Comenius, der mich stets lächeln macht, im Vorbeigehen, in seiner unerschütterlichen Heiligkeit mit gebreiteten Händen stehend, mich mit seinem langen Spitzbart an Dostojewskis Idiot denken lassend, an diese literarischen Jesus-Figuren, die jeweils eine Uneindeutigkeit hervorrufen, diese eigenartige Mischung aus Mitgefühl, Bewunderung und Belustigung, diese Don Quijotes, die ich allesamt liebe.
Statue des Comenius, Geschenk an Rixdorf aus Tschechien |
„Ich saß auf einem Steine / und deckte Bein mit Beine / Den Ellenbogen stützt
ich auf / Und schmiegte in die Hand darauf / Das Kinn und eine Wange / So
grübelte ich lange: Wozu auf Erden dient dies Leben? ...“ Ach, Walther,
was kommst nun du mir in den Sinn?
Ich raffe mich auf, erhebe mich von meinem Stein und
glätte meine Kleidung, laufe ungewohnt ungeduldig den langen Sandweg zurück,
öffne das Zaun-Tor und stehe schon wieder vor einem stummen Zeitreisenden,
diesmal ist es das Denkmal des Soldatenkönigs, Friedrich Wilhelm I.,
auf dem Platz, der zur Engen Gasse führt.
Statue Friedrich Wilhelm I. |
„Maikäfer flieg, dein Vater ist im Krieg. Deine Mutter ist in Pommerland, Pommerland ist abgebrannt …“ Ich beginne dies Lied zu summen, ich liebe dieses traurige Kinderlied. Der Soldatenkönig, oh, wie hat er seinen Sprössling Friedrich II. mit preußischem Drill gequält. Die Ahnengalerie im Esszimmer meiner Eltern zeigten so viele Herren im kratzenden Stehkragen und Damen im fest gezurrten Korsett. Wie viele meiner Ahnen sangen begeisterte Lieder, als sie in einen ihrer Kriege zogen? Wie viele kehrten nicht oder mit Wunden im Innen und Außen zurück? Mein Vater, mein Vater, was hat dir der Krieg getan? Auch ihn fand ich hier wieder, in den Geschichten zu diesem wundersamen Dorf.
Tor am Richardplatz/ Durchgang zum Karma-Garten |
Zeichnung und Infos dazu --->HIER
Danke für diese Erzählung, ein Grund mich wieder einmal in einen Zug Richtung Berling zu setzen um Rixdorf zu ergehen.
AntwortenLöschenEine kleine Führung würde mich freuen ... Merci & Miau!
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