Und nun das


Redaktionschef, Boncuk, der Kater,
in Herrgottsfrühe.

Es ist 4 Uhr morgens, der Wecker schellt und ich weiß nicht mehr, weshalb er das macht. Ich habe den Wecker gestern auf genau 4 Uhr gestellt, ich habe den kleinen Knopf zwecks Alarm-Aktivierung gedrückt, ich bin zeitig ins Bett geschlichen, habe mich zusammengerollt, neben meinem Kopfkissen legte sich dann der Kater in einer ähnlichen Körperhaltung zu mir, sofort war ich eingeschlafen, traumlos ist sie gewesen, die Nacht und nun das. Das Zimmer ist noch stockdunkel, es ist November, der Kater faucht, als ich ihn mit einer meiner fahrigen Hände streife und mich zu erinnern versuche, weshalb dieser Wecker ein ohrenbetäubendes Schrillen von sich gibt. Ja, klar, er schrillt, weil ich es am Abend so haben wollte, doch wozu ich das so haben wollte, ist mir gänzlich schleierhaft. Welche Pflicht könnte mich treiben, welcher Wunsch mich locken, um das zu rechtfertigen? Der schwarze Kater scheint die Situation besser als ich zu verstehen, denn er lässt nun ein verspieltes Gähnen durch seine weiche Kehle nach außen dringen, ich sehe ihn als Schatten, kein wirklicher Kater, sondern ein noch dunkleres, konturfüllendes Etwas, das der Dunkelheit meines Zimmers einen leichten Kontrast entgegenzusetzen weiß. Dann huscht er an meinem Gesicht vorbei aus dem Bett, ich weiß nicht, warum er geradewegs von diesem schwarzen Loch am Kopfende des Bettes verschlungen wird, auf einmal ist er für mich unsichtbar geworden, doch seine Pfoten sind auf dem Laminat zu hören, eiliges Katzentapsen, dann scheint er ein wenig mit einem Tellerchen aus Porzellan zu scheppern, warum, wieso, ich habe ganz und gar keinen Plan. „Verrücktes Tier“, denke ich bei mir, „im Bett hätte er es doch noch schön warm haben können“. Vorsichtig setze ich einen Fuß vor das Bett auf das kühle Laminat, ich bin froh, dass ich eine genaue Vorstellung davon habe, in welchen Brauntönen die dünnen Platten geometrisch angeordnet sind. „Es ist doch noch nicht alles schwarz in meinem Innen“, denke ich erleichtert, „zumindest ist keine vollkommene Auslöschung meines Denkapparates zu vermuten“. Ich ziehe das zweite Bein in Zeitlupe an das erste Bein heran, sitze unwillig auf der Bettkante, die Matratze ist so weich, „zu weich!“, denke ich und erhebe mich mit leichtem Stöhnen. Der Wecker schrillt, der Kater klappert mit einem Tellerchen und mir leuchtet noch immer nicht ein, welchen tieferen Sinn das alles haben könnte, wohin mich das führen soll. Mit einer fuchtelnd energischen Bewegung des rechten Handrückens schleudere ich das materialisierte Tönen auf den Fußboden, ich kann den Wecker zwar nicht sehen, aber ich habe getroffen, so ein tosendes Geräusch ist für eine genaue Ortung im Dunkeln hilfreich. Ein letztes Röcheln entfährt dem Gerät, mein Fuß tritt ins irgendwo, autsch, das tut weh, ein batteriebetriebener Plastikwecker ist nicht ohne Gegenwehr zu vernichten, doch nun ist Ruhe. Ich lausche, noch immer empört, in die Stille hinein, schemenhaft das Bett als massige Fläche im grauen Dämmer realisierend, setze vorsichtig Fuß um Fuß in dessen Richtung, taste nach der Bettkante und lasse mein Hinterteil erneut auf die weiche Matratze sinken. „Geschafft“, sage ich mir, „das wäre ja auch gelacht gewesen“. Kurz kichere ich in mich hinein, die missliche Lage überdenkend. Es fällt mir partout nichts ein. Nichts, was den Hauch eines Sinns in sich trüge. Resigniert lasse ich meinen Oberkörper auf gut Glück in die Matratze sinken, die Beine baumeln über der Kante des Bettes, es ist inzwischen nur unwesentlich heller im Raum geworden, so ein Dämmerschwarz ist irgendwie lebendiger, schattenreicher als ein pures Schwarz, aber dennoch schöpfe ich auch mit dieser Erkenntnis kaum Hoffnung. Um mich zu testen, überlege ich, ob ich wohl noch meinen Namen kenne. „Anton Kurzke“, antwortet mein Hirn umgehend auf diese Frage und „richtig, alter Junge“, flüstere ich in die Düsternis vor meinem Gesichtsfeld hinein, „Anton Kurzke, kein schöner Name, aber Mein.“ Etwas Warmes, Weiches ist mit einem ziemlichen Plumps auf meinem Bauch gelandet, aha, der schwarze Kater ist back, er bearbeitet nun meine Eingeweide durch die Haut des Oberbauchs hindurch mit einem kompetenten Milchtritt. „Was will er nur?“, frage ich mich leicht enerviert, dabei beruhigt es mich, dass ich mir den Kater als Kater zuordnen kann, meinen Namen weiß und die Wohnung noch lückenlos, bis in hinterste Winkel hinein, theoretisch zu kennen scheine. „Ich bin Anton Kurzke, ich habe einen schwarzen Kater und wohne seit langer, langer Zeit hier in dieser Wohnung.“ Alles scheint mit diesem Satz benannt, erkannt und gebannt zu sein, Erinnerungen an den gestrigen und vorgestrigen Tag tauchen auf, so wie sich Bilder auf einer Leinwand ausbreiten, um dem schwarzen Raum eines unbelebten Kinosaals eine Richtung zu geben. Mein Leben ist mir demnach vollkommen bekannt und doch suche ich mit zunehmender Verzweiflung nach dem Erkennen eines Plans. „Wofür, bitte sehr, habe ich denn gestern Abend den Wecker auf 4 Uhr morgens gestellt? Und was zum Teufel will mein Kater von mir?“ Denn dass dieses Tier mit zunehmender Vehemenz ein scheinbares Recht einfordert, ist augenscheinlich, inzwischen verzichtet er auf den Milchtritt, springt dafür aber in stetem Wechsel von meinem Bauch aus dem Bett und dann mit Wucht vom Laminat nach oben zurück auf meinen Bauch. Mir dämmert im dunklen Dämmer, dass der Kater eventuell gefüttert werden will. Und ein Kater, so weiß ich, will pünktlich gefüttert werden, so wie er all die Tage zuvor pünktlich gefüttert worden ist. 4 Uhr morgens, soviel ist nun klar, ist die Zeit, zu der ich aufzustehen pflege. Tagein, tagaus. Jahr für Jahr. Heute aber ergibt das für mich noch immer partout keinen Sinn! Ich entsinne mich an eine große, wichtigtuerisch im Stadtbild angesiedelte Behörde mit vielen Stockwerken, die hinauf in den Himmel führen, währenddessen ich im Keller die Akten sortiere. Wozu? Ich zucke mit den Schultern, streichle das Fell des Katers, er schnurrt zunächst, knabbert dann allerdings an meinen Fingern, das Grün seiner schräg stehenden Augen ein wenig illuminierend, so dass ich kleine leuchtende Punkte erkennen kann. „Er gibt keine Ruhe“, sage ich zu mir, erhebe mich vom Bett, schlurfe barfuß und tastend in die Küche, der Weg erschlösse sich mir auch im Schlaf, knipse ein fahles Licht an, öffne die bereitgestellte Dose mit Katzenfutter, „endlich!“, scheint das Tier zu denken, es rast aus dem Dunkel auftauchend zu seinem nun gefüllten Tellerchen und beginnt zu schlabbern und zu kauen, doch auf possierliche Kater-Art. Ich setze mich an den runden Küchentisch, stütze mein Gesicht in die aufgestellten Fäuste, schüttle den Kopf, nein, ich weiß es nicht mehr, weiß absolut und gar nicht, für was ich hier sitze, wieso der Wecker um 4 Uhr morgens sein Leben lassen musste, ein Kater im Dunkeln nach Futter verlangt und warum ich irgendwann in meinem Leben beschlossen habe, dass ein Archiv ein Ort für mich sein könnte, der ab 4 Uhr morgens mein Leben bestimmt. „Ich warte“, denke ich, „ich warte noch eine Weile, so lang will ich warten, bis die Zukunft als klare Kontur aus dem Schatten tritt, bis ich weiß, warum der Wecker schellt und ein Tag beginnt, obwohl die Nacht noch Nacht sein möchte. Wenn sich die Zukunft mir enthüllt, mir ihren Sinn verrät, will ich es gut sein lassen, die Kaffeemaschine anschmeißen, die Zähne putzen und das Haus verlassen. Sonst aber werde ich warten und hier sitzen bleiben, bis ich das andere weiß, das Geheimnis, das Unentrinnbare“. Und so sitze ich, versunken vor mich auf die Tischplatte starrend und warte.




Boncuk, der Kater, in der Redaktionskonferenz:
Sehr schön, meine Täubchen, warum, warum nur, dieses alltägliche Aufstehen.
Das ist die Frage ...
Und schon hat er sich zusammen gerollt und schläft.

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